Ernst Friedel: Syvester 1955

Ein Beitrag unseres Mitglieds Ernst Friedel aus Kanada, der seine Jugend in Regnitzlosau verbracht hat.

Die Schwelle zum neuen Jahr ist nun überschritten. Was es uns bringen wird, das wissen wir nicht, aber wir dürfen hoffen. Hoffen, dass die Kriege, welche die Menschheit belasten, endlich aufhören und mehr Harmonie zwischen den Völkern herrscht.

Meine Gedanken gehen zurück zum Sylvester 1955. Es war in der Zeit des Kalten Krieges und viele Menschen hatten Angst, dass es bald zu einer militärischen Auseinandersetzung zwischen dem Osten und dem Westen kommen wird.

Obwohl ich damals erst 19 Jahre alt war, gingen auch mir diese Gedanken durch den Kopf. Hier ein Rückblick

Sylvester 1955

Eine Erinnerung

Es war an Silvester 1955 und ich war zum Tanz im Saal der Gaststätte Hofmann in Regnitzlosau. Lustig ging es zu und je dichter es auf Mitternacht zuging, desto lauter wurde es. Weil es nun gar so laut war, fühlte ich mich plötzlich nicht mehr wohl. Zeit zum Nachdenken wollte ich haben; ich wollte allein sein.

Ich holte meine Jacke und ging hinaus. Bergauf, am Vereinshaus und am Schloss vorbei, bis ich den höchsten Punkt erreicht hatte. Es war eine kalte Nacht mit viel Schnee. Der Himmel über mir war sternenklar. Noch nie hatte ich den Mond so hell gesehen, es muss wohl Vollmond gewesen sein. Da stand ich nun und schaute in die Ferne. Meine Heimat!  Da drüben im Norden war die Ostzone, dort lebten meine deutschen Brüder und Schwestern und meine Verwandten.

Die politische Lage zwischen Ost und West war sehr angespannt und man sprach von einer militärischen Auseinandersetzung, die kommen könnte. Deutsche gegen Deutsche? Das ging mir durch den Kopf. Die Wehrpflicht sollte eingeführt werden. Obwohl ich nichts gegen das Militär hatte, wollte ich, solange Deutschland geteilt ist, nicht dabei sein. Deutsche gegen Deutsche, nein, das wollte ich nicht, das lag mir fern.

Ich war immer sehr Deutsch eingestellt, wahrscheinlich weil ich teilweise im Dritten Reich aufgewachsen bin und unsere Lehrerin, Frau Lauterbach, uns die Heimat lieb machte. Sie war streng, aber sie hatte uns gern. Draisendorf, wo ich zur Schule ging, hatte eine Dorfschule, die heute noch steht, mit einem Raum, in dem sie acht Klassen unterrichtete. Im Schulgarten stand ein großer Kirschbaum und die Kirschen hat sie unter den Schülern verteilt. Im Unterricht hatten wir ein Fach genannt Heimatkunde, da wurde uns die Heimat lieb gemacht. Wir lernten, dass Draisendorf früher etwa 2 km nördlich lag, aber da durch Blitzschlag die Häuser immer wieder abbrannten. hat man die Ortschaft dahin verlegt, wo sie jetzt ist. Eine alte Handelsstraße hat sie uns gezeigt, von der noch Überreste zu sehen waren. Sie verlief von Westen nach Osten und überquerte die Straße von Draisendorf zur alten B15, wo jetzt Böhme ist. Der geographische Punkt ist 50°16'15.12"N  12° 0'46.12"E. Sie erzählte uns, was auf dieser Straße befördert wurde. Sie sprach von den Gefahren, denen die Händler ausgesetzt waren. Bei Regen blieben die Wagen im Morast stecken. Es gab Räuber, welche die Händler ausraubten. Sie machte es so interessant, dass wir gespannt zuhörten.

Erinnerungen gingen mir durch den Kopf und ich wunderte mich, was das kommende Jahr 1956 für mich bringen würde. Hatte ich doch einen Antrag eingereicht, um für zwei oder drei Jahre nach Kanada zu gehen. Von dort wollte ich dann weiter nach Südamerika und danach wieder zurück in die Heimat. Mein Traum war mich politisch zu betätigen, um zu helfen Deutschland wieder aufzubauen. Dass dies der letzte Sylvester sein würde, den ich in Deutschland verlebte, kam mir dabei nicht in den Sinn. Die Glocken der Kirche läuteten und wenn ich mich recht erinnere, hörte ich auch den Posaunenchor. Nun wusste ich, ein neues Jahr hat angefangen. Noch ein paar Mal schaute ich hinaus in die mondbeleuchtete Heimat, dann ging ich hinunter ins Dorf. Ich mischte mich wieder unter die Menschen, aber die Fröhlichkeit, mit der sie die Ankunft des neuen Jahres 1956 feierten, konnte ich nicht teilen.

Mehr als fünfundsechzig Jahre sind seit dem Sylvester 1955 vergangen und mein Leben ist anders verlaufen als ich es mir damals vorstellte. Bin ich deswegen unzufrieden? Nein! Ich habe ein hübsches Mädel gefunden, das ihr Leben als Ehefrau mit mir teilt. Vier Kinder haben wir großgezogen. Wir haben Enkel und Urenkel und wirtschaftlich geht es uns gut. Es gab Höhen und Tiefen. Aber mit Dankbarkeit kann ich auf mein Leben zurückblicken. Mein Reisepass sagt Kanadier, aber mein Herz ist deutsch geblieben.

Ernst